Festival

DIE LIEBE DIESMAL
Raphaëlle Red


Es gab eine Zeit, in der ich fast alles verstand. Ich war damit nicht allein. Wir waren zu dritt, hatten Namen füreinander, meiner war Cousin, und bis heute trage ich ihn lieber als alle anderen Spitznamen.

Wir lernten von den großen Regeln, die die Welt regieren, Kapitalismus, Patriarchat, Kolonialismus, und wir verstanden plötzlich so vieles: den Neokolonialismus, den Nahost-Konflikt, den Maoismus, die weiße Vorherrschaft und die Négritude. Wir waren zwanzig und manchmal bekifft, und so erleichtert, dass wir mit der Ungerechtigkeit, der Bitterkeit und der Wut, die die Welt in uns hinterlassen hatte, nicht mehr allein waren.

Es war eine gute Zeit in einer schlechten für mich. Es war Harlem, und es war Winter, und es war längst nicht mehr Jimmys Harlem, sondern das der Columbia Universität, die sich seit Jahrzehnten immer weiter ausdehnte in diesem Teil der Stadt und – mit anderen gentrifizierenden Kräften zusammen – die Harlemites wegdrängt. Also war es längst nicht mehr Jimmys Harlem, in das ich donnerstags flüchtete. Ich studierte nämlich nicht in Columbia, aber ich hielt meine Depression übers Wochenende nicht aus, mein fensterloses Zimmer auch nicht, und ich liebte zwei Männer, die dort in Harlem studierten. Im Süden der Stadt stieg ich in die Local Line, und manchmal aus Versehen auch in den Express-Zug, was bedeutete, dass er nicht an der 135th Street anhielt, und meine Ankunft sich verzögerte.

Was selten ein Problem war: sie waren oft spät dran mit Kochen, und meistens aßen wir mitten in der Nacht, oder zwei Mal. Wir waren auf viele und auf unterschiedliche Weisen privilegiert, darunter die unmittelbaren Bedingungen für unsere Anwesenheit hier: Einer hatte ein totes, reiches Familienmitglied, der andere einen Vater, der ein Arschloch war, aber vertraglich verpflichtet, ihm die Studiengebühren zu überweisen, ich ein Stipendium und eine Mutter, die den Rest der Miete zahlte.

Vielleicht fragen Sie sich jetzt, was das mit James Baldwin zu tun hat, und ich verspreche, dazu komme ich gleich. Aber es geht, und ging, eben auch um Liebe. Das sagten wir damals nicht, oder nicht oft genug, aber es nennt sich so, wenn man einander nächtelang beim Nachdenken zuhört, wenn man sich beim zusammen Tanzen ohne Angst vor Schwindel ganz lange dreht, im Wissen, man würde beim Fallen gefangen werden. Es nennt sich halt Liebe, wenn es jeden Donnerstagabend frisch gebackenen Schokokuchen gibt.

Dort, in dieser Wohnung, vielleicht mit einem Stück Kuchen, wahrscheinlich eher mit Musik von Mafia K‘1Fry im Hintergrund und einem Aschenbecher auf dem Oberschenkel, habe ich angefangen The Fire Next Time zu lesen, Baldwins Essaysammlung aus 1963, die mit dem Text „My Dungeon Shook: Letter to My Nephew on the One Hundredth Anniversary of the Emancipation“ anfängt. E hatte ihn für mich mitgebracht, einer dieser beiden Männer, die ich liebte. Er wollte, dass ich den Brief lese, weil er ihn gerade gelesen hatte, und weil wir einander beim Lesen zuschauten, weil wir unbedingt hören wollten, ob uns dieselben Sachen berührten, und weil ich so traurig war, und weil er vermutlich wusste, dass dieser Brief eine andere Art der Umarmung sein würde, als er mir hätte geben können, und sowieso waren wir uns damals für Umarmungen etwas zu tough, oder zu unbeholfen, also las ich.

Vielleicht lag es am Gesicht des Autors auf dem Cover, vielleicht waren es der dünne Schal und die großen Ringe an seinen Fingern, die Ohren oder die Doppelfalte zwischen den Augenbrauen; oder es waren die ersten Videos, in denen ich seine Stimme hörte und seinen Blick sah; oder es waren wieder mal meine daddy issues, oder es war die Berührung des rauen Papiers unter meinen Fingern. Aber als ich las: „I know what the world has done to [your father] and how narrowly he has survived it” und “Here you were: to be loved. To be loved, baby, hard, at once, and forever, to strengthen you against the loveless world.” Und “if we had not loved each other none of us would have survived”. Als ich das las, fühlte ich mich so gehalten wie schon lange nicht mehr.

Und ich weiß, es hat oft etwas Unglaubwürdiges, wenn eine Autorin sagt, dass ein Buch ihr Leben gerettet habe. Sie müssen es auch nicht glauben, zumal ich mir selbst nicht sicher bin, was ausschlaggebend war fürs Aushalten einer der härtesten Winter meines Lebens, als sich mein eigener Kopf und Körper in einen feindlichen Raum verwandelten, dem ich nicht mehr entkam. Aber vielleicht glauben Sie mir, wenn ich sage: als Baldwin beteuerte „Please try to remember that what they believe, as well as what they do and cause you to endure, does not testify to your inferiority but to their humanity and fear. Please try to be clear, dear James, through the storm which rages about your youthful head today…”, änderte sich etwas Fundamentales in meinem politischen Denken, und in meinem Schreiben. In diesem „Please try to“ steckt für mich die ganze Zärtlichkeit eines Mannes, der etwas vom Menschsein weiß, der auch so einen Körper hat, auch so eine Wut und eine Trauer und eine Hoffnung und eine Verliebtheit zwischen den Rippen; die offene Sturheit eines Mannes, der Parteilinien und doktrinäres Denken zurückgewiesen hat, ohne politische Aktion, kollektives Organisieren und Solidarität zu verweigern. ‚Bitte versuch doch‘ war die schönste Einladung für mich, denn ich begann zu ahnen, dass ich nicht alles verstanden hatte, und auch, wie sehr mich die Welt schmerzte, und ich wollte es versuchen, und es half zu wissen, dass es nicht nur mir schwerfiel.

Das ist etwas, das mich zu Baldwin bis heute – denn die Welt schmerzt nicht weniger, und ist mir nicht viel verständlicher – hinzieht: die Prozesshaftigkeit seines Denkens, und dass er sie mit uns teilt. Denn er war ein Denker. Das, was wir als Glaubenssätze von ihm wahrnehmen, gerade wenn sie als Sharables online zirkulieren, sind Auszüge aus ganzen, aus vollen, Gedanken.

Das zeigt sich nirgendwo besser als in seiner Erfahrung im Paris der Nachkriegsjahre, in das Baldwin sich geflüchtet hatte. Paris wurde für ihn zunächst ein Ort der Zuflucht („At first, I must admit, Paris was a refuge“); ein Ort, an dem er in die schicken Restaurants und Bars kam, und an dem er als Mensch behandelt wurde, anders als in den USA. Doch nach und nach beobachtete er, wie jene Schwarze Menschen, die keinen US-Pass hatten, aber vor allem wie die Algerier in Paris einer Gewalt, Unterdrückung und Diskriminierung ausgesetzt waren, die ihm bekannt vorkam. Baldwin sagte es selbst: als er noch 1956 beim Internationalen Kongress Schwarzer Schriftsteller und Künstler an der Sorbonne vom algerischen Unabhängigkeitskampf hört, versteht er nicht (‚ I didn’t understand‘), vor allem nicht, was das mit ihm zu tun hat. Es wird erst mehr als eine Dekade später in seinem Schreiben verarbeitet, was es eigentlich bedeutete, nach und nach zu verstehen, und die Projektion dieses Zufluchtsortes loszulassen. Mir ist aber an dieser Stelle wichtig zu betonen: Baldwin steht, sowohl im Moment als auch nachträglich, zu Unwissen, Missverständnis, zu den intimen Gefühlen und Bedürfnissen, die zu bestimmten politischen Erkenntnissen führen. Mir erteilte er die Erlaubnis, wirklich zu denken, indem er seinen Denkprozess über Jahrzehnte (zumindest zum Teil) schrieb und beschrieb.

Ich glaube, so ist es ihm auch gelungen, in seinen Texten und darüber hinaus eine Form des Gesprächs zu suchen, das nicht das der bürgerlichen Mitte war. Eine radikale, internationalistische und kontextbewusste[1] Praxis des Gesprächs, des schwierigen Gesprächs, in der die bürgerlichen Codes zum Teil abgeschafft wurden. Denn in Baldwins Praxis lässt sich hassen und lieben, die Wut kann eine völlig überkommen, die Tränen oder der Frust überlaufen. “Please try to be clear, dear James, through the storm which rages about your youthful head today…”  Please try.

Im Wohnzimmer in Harlem musste E früh morgens immer an mir vorbei, um auf der Dachterrasse zu beten. Jedes Mal tat ich so, als würde ich schlafen, nur um ihn zu sehen, wie er so behutsam meine Matratze umkreiste. Ich las über die Freundschaft zwischen James Baldwin und Lorraine Hansberry, und stellte sie mir vor, diese intime, intellektuelle Verbundenheit. Ich mochte diese Freundschaft sehr, vielleicht weil ich mich besser als Lorraine imaginieren konnte als als James, weil ich schon mal geweint hatte zu Worten aus Young Gifted and Black, die Nina Simone für sie schrieb; Lorraine, die nicht arm aufgewachsen war wie Baldwin; Lorraine, die Frauen liebte und mit 34 verdammt früh starb.

Es gibt ein Gedicht, das ich liebe. Sein Autor, Ross Gay, ist erst 1974 geboren, könnte also nicht ganz Baldwins Neffe sein. Darin listet Gay seinen Katalog der Dankbarkeit auf, Catalogue of Gratitude, und sagt an einer Stelle: “thank you / the ancestor who loved you / before she knew you / by smuggling seeds into her braid for the long / journey, who loved you / before he knew you by putting / a walnut tree in the ground, who loved you / before she knew you by not slaughtering / the land; thank you who did not bulldoze the ancient grove of dates and olives, who sailed his keys into the ocean and walked softly home; who did not fire, who did not plunge the head into the toilet, who said stop, don’t do that; who lifted some broken someone up […]”. Für mich ist Baldwin ein solcher Vorfahre. Einer, dem es um die Liebe geht, ohne dass es platt ist. Einer, der uns auffordert, genauer hinzuschauen, was diese Liebe ist. Und ich glaube es ist oft die, die sagt: Stop. Don’t do that.

Eine Weile noch schauten wir drei Demovideos auf Apple Computern, die von Eltern zum Abi geschenkt wurden. Wir waren bürgerliche Kinder, die von Revolutionen träumten, die unsere noch nicht bürgerlichen Eltern auf drei unterschiedlichen Kontinenten bereits versucht hatten, zu führen. Wir verbrachten ganze Nächte damit, neu zu verhandeln, welchen Platz wir einnehmen konnten in der Welt, in der Zukunft; wie wir Teil der Bewegung, Teil des Umsturzes werden konnten, während wir Videos schauten von Menschen, die an der Ecke zu unserem Stammcafé in Paris ein Auge verloren. Wir sprachen über New York, über Frankreich, und einmal, als ich aus einem Seminar zu The Afro-Arab World zurückkam, sprachen wir ein Wochenende lang über diesen Satz von Baldwin: „I could, simply, no longer sit around in Paris discussing the Algerian and the black American problem. Everybody else was paying their dues, and it was time I went home and paid mine.” (No Name in the Street, p. 50). Auch wir mussten zurück, haben unterschiedlich versucht, jeweils unseren Beitrag zu leisten. Von Baldwin und dem Winter in Harlem behielten wir das Wissen, Teil einer verstrickten Welt zu sein. Wir behielten die Freundschaft. Und die Erinnerung, dass Menschen von bestimmten Positionen aus, in einem bestimmten Kontext sprechen, und lieben, und Sex haben, und schreiben, und aggressiv werden, und Nähe suchen, und sich prügeln, und füreinander Kochen.


[1]  (sprach doch Baldwin, als er zu Ende seines Lebens durch sein Interesse zu den Black Panthers den Sozialismus auch unter diesem Namen wieder befürwortete: “an indigenous socialism, formed by, and responding to, the real needs of the American people. This is not a doctrinaire position, no matter how the Panthers may seem to glorify Mao or Che or Fanon. . . . The necessity for a form of socialism is based on the observation that the world’s present economic arrangements doom most of the world to misery; that the way of life dictated by these arrangements is both sterile and immoral; and, finally, that there is no hope for peace in the world so long as these arrangements obtain.”)


Photos by Hannes Wiedemann


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